Ludwig Rauch gewährt uns einmalige Einblicke in die militante Neonazi-Szene Anfang der 90er-Jahre in den neuen Bundesländern. Personen aus diesem Umfeld erlangten später zweifelhaften Ruhm als verurteilte Brandstifter, Mörder und Terroristen. Unsere Redakteure Jakob Ganslmeier und Roman Kutzowitz befragten Zeitzeugen und Aktivisten und arbeiteten ideologische Kontinuitäten heraus, die alle historischen Brüche überdauerten und von der DDR-Zeit direkt zum rechten Terror der Gegenwart führen.
Lange Zeit hat man sich, vor allem in den alten Bundesländern, über die »dummen Glatzen aus der Platte« lustig gemacht. Neonazis wurden als ostdeutsches Phänomen abgetan und als exotische Randerscheinung verharmlost. Spätestens seit der NSU-Mordserie funktioniert dieser Verdrängungsmechanismus nicht mehr. Zu lange wurden völkische Gesinnung (wie etwa in der Pegida-Bewegung), das Sympathisieren mit Neonazis, politisch motivierte Gewalttätigkeiten und Brandanschläge auf Geflüchtetenheime vernachlässigt. Zu lange schauten alle weg. Zu lange wurden die Gefahren und die Anziehungskraft von politisch Rechten verharmlost. Eines scheint klar zu sein: Der ewige Biedermeier stößt an seine Grenzen; eine politische Positionierung gegen den Rechtsruck scheint momentan so wichtig wie lange nicht. Woher kommt dieser Rechtsruck? Wieso kommt er auf einmal und mit dieser Kraft? Und wie konnte das alles so lange unter der Oberfläche bleiben? Werfen wir einen Blick in die Zeit, in der der Boden für den heutigen rechten Terror und die völkische Gesinnung bereitet wurde.
In cremefarbenen Plattenbauten, die offensichtlich schon bessere Tage gesehen haben, wächst schon vor der Wiedervereinigung eine Generation von Jugendlichen in Ost-Berlin, aber auch in der gesamten DDR, heran, die sich ganz dem Nationalismus verschrieben hat. Es sind Bilderbuch-Neonazis; sie tragen saubere T-Shirts, kurz geschorene Haare und strahlen mit ihrem ordentlichen Erscheinungsbild Selbstbewusstsein, Autonomie und Stärke aus. Dieser Look, gepaart mit dem ideologischen Gedankengut, wird in den 80er-Jahren schnell zum Trend – es ist cool, Neonazi zu sein.
Bernd Wagner war 1988/89 Leiter der AG »Skinhead« in der Hauptabteilung der Kriminalpolizei in Ost-Berlin und außerdem Leiter der Abteilung Extremismus/Terrorismus im zentralen Kriminalamt der DDR. Laut seinen Studien war die Kriminalisierung und Radikalisierung von Neonazis 1988 weitestgehend abgeschlossen. Für Wagner gibt es eine lange Fehlerkette, die zur Radikalisierung der jungen Frauen und Männer geführt hat, angefangen bei der allgemeinen Ignorierung und Verharmlosung der Neonazis. Der Fokus von Volkspolizei und Stasi lag eindeutig auf DDR-Geflüchteten und sogenannten »Auffälligen«, also Personen, die Kritik am Staat äußerten. Sie hatten mit tagelangen Verhören und Inhaftierung bis hin zur Gummizelle zu rechnen. Neonazis hingegen wurden zwar verfolgt, aber nie als gefährlich eingestuft. Ihre Bestrafung bestand beispielsweise darin, dass sie in die berüchtigte Militärkaserne in Eggesin in der Uckermark eingezogen wurden.
Laut Wagner war dies absolut kontraproduktiv: Viele Neonazis wurden dort diszipliniert, professionell körperlich trainiert und an der Waffe ausgebildet, das heißt genau in den Fähigkeiten und Tugenden geschult, die ihnen für ihr weiteres Neonazi-Dasein nützlich sein würden. Die karge und sandige Landschaft, die Eggesin auch den Spitznamen »Sandmeer« verlieh, stellte für die jungen Männer ebenfalls einen Motivationsfaktor dar, unter anderem weil sie hier die idealen Bedingungen vorfanden, um Rommels Afrika-Feldzug nachzustellen. Falls sie nach der Entlassung aus der Kaserne nochmals einer Straftat überführt wurden, mussten sie tatsächlich mit der Inhaftierung in einem gesonderten Stasi-Gefängnis rechnen. Allerdings stießen sie dort auf andere junge Gleichgesinnte und vor allem auf Alt-Nazis, die im Zuge der Entnazifizierung nach 1945 inhaftiert worden waren. Sie konnten ihre jungen Nachfolger gewissermaßen mit rechten Ideologien »aus erster Hand« füttern, wofür sie im Gegenzug von diesen heroisiert wurden.
Zur vollen Entfaltung und Entfesselung des Neonazismus kam es während der Wendezeit. Laut dem Zeitzeugen Andre*, der zu dieser Zeit Antifa-Aktivist war, wurden von den abziehenden Russen an jeder Ecke Waffen verkauft. Die Hauptabnehmer_innen: Neonazis. Völlig undefiniert war zudem die Rolle der ehemaligen Volkspolizei. Sie hatte durch die Wende ihre Autorität und besondere Stellung verloren, was letztlich dazu beitrug, dass die Neonazis immer mehr Handlungsspielraum bekamen.
Eines der Neonazi-Zentren war das besetzte Haus in der Weitlingstraße in Berlin-Lichtenberg. Hier wohnten und trafen sich Schlüsselfiguren der Szene, um Aktionen zu planen, Anhänger_innen zu rekrutieren und vor allem, um die nazistische Ideologie weiter zu schulen und zu vertiefen. Jedes Wochenende zogen sie in Gruppen durch Lichtenberg, um zu saufen, sich mit Antifa-Aktivist_innen zu prügeln und vermeintliche Ausländer_innen zu jagen. Beispiele von Opfern rechter Gewalt aus dieser Zeit gibt es genügend. So wurde beispielsweise am 7. Oktober 1990, vier Tage nach der Wiedervereinigung, Andrzej Fratczak von drei jugendlichen Deutschen in Lübbenau durch Messerstiche ermordet. Rückendeckung bekamen die Neonazis dabei auch aus der Gesellschaft: Man sprach von »unseren Jungs«, schaute gerne weg bzw. hielt grundsätzlich die Füße still – darin hatte man schließlich Übung. Und was hatten die jungen Männer denn schon großartig verbrochen? Sie reinigten die Stadt von den »Zecken«, den Obdachlosen, Schwulen, politisch Linken und Ausländer_innen, also von jenen, die die schöne neue deutsch-homogene Harmonie nur stören konnten. Nach ein paar Bieren grüßte man gerne mal mit dem Hitlergruß.
Folgt man Bernd Wagner, so haben sich in der Zwischenzeit lediglich die Begrifflichkeiten verändert: Heute spricht man von Rechtspopulismus, früher von Volksideologie – und diese wurde von einem nicht zu unterschätzenden Anteil der DDR-Bürger_innen geteilt.
Trotzdem stellt sich die Frage, warum nach der turbulenten und an Gesetzlosigkeit grenzenden Wendezeit nicht irgendwann die konsequente rechtliche Verfolgung der Neonazis einsetzte. Bernd Wagner war damals zu mehreren Tagungen zum Thema Terrorismus und extremistische Bewegungen eingeladen. Er berichtet, dass der rechten Szene trotz seiner Vorträge und anderer Berichterstattungen kaum Beachtung geschenkt wurde. Er sei vielmehr darauf angesprochen worden, warum er diesen paar »Rowdys« nachspürt – Zweifel an der Notwendigkeit sei die vorherrschende Reaktion gewesen. Das Verhalten der Neonazis wurde mit dem durch den Fall des autoritären DDR-Regimes entstandenen Vakuum gerechtfertigt; in diesen schwierigen Zeiten sei es ganz normal, dass die Jugendlichen über die Stränge schlügen. Im Fokus der Beamt_innen standen nicht die ultrarechten, sondern die ultralinken Tendenzen. Jegliche Terrorgefahr wurde der linken Szene zugeschrieben.
Währenddessen feierten Hunderte Neonazis am Alexanderplatz in Berlin ungestört Hitlers Geburtstag. In Ost-Berlin entstanden zahlreiche Kader sowie die Partei Nationale Alternative (NA). Diese hatte Mitte des Jahres 1990 bereits über 600 Mitglieder; zu den bekannteren zählten unter anderem Bendix Wendt, Ingo Hasselbach und Oliver Schweigert.
Spätere Aussteiger_innen aus der Szene berichten, dass Wendt innerhalb der NA »Wehrsport-Beauftragter« war. In diesem Amt organisierte er regelmäßige Schießübungen außerhalb von Berlin. Dort, auf den ehemaligen Schlachtfeldern des zweiten Weltkriegs, konnte er Dutzende Handgranaten und Waffen sammeln. Er verfeinerte sein Wissen um Sprengstoff und Waffen immer weiter, bis er sich 1994 für drei Monate als Söldner der 101. Brigade der Ustascha in Kroatien anschloss. Nachdem Wendt den österreichischen Neonazi Peter Binder, der für zahlreiche Briefbomben-Attentate in Deutschland und Österreich verantwortlich gemacht wurde, mit bis zu zehn Kilogramm Sprengstoff versorgt hatte, wurde er zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Im Jahr 2002 schlug Wendt, zwei Tage vor der Bundestagswahl, dem Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele mit einer Stahlrute auf den Hinterkopf. 2009 wurde er erneut zu einem Jahr und neun Monaten Freiheitsstrafe wegen des unerlaubten Transports explosionsgefährlicher Stoffe verurteilt.
Ingo Hasselbach gehörte ebenso zu den Schlüsselfiguren der Ost-Berliner Neonazi-Szene und war Parteivorsitzender der Nationalen Alternative. 1993 wurde er als berühmtester Aussteiger bekannt. In seinem Buch Die Abrechnung beschreibt er, wie sich die Partei unter anderem durch Interviews finanzieren konnte – Journalist_innen zahlten in der Regel zwischen 200 und 1000 D-Mark für ein Interview mit einem führenden Parteimitglied. Und er berichtet, wie die Nationale Alternative jeden Tag »orientierungslose Jugendliche« aufnahm und ihnen in der Weitlingstraße (in der Hasselbach Hausführer war) eine »Heimat« bot. Er managte verschiedene militante neonazistische Kameradschaften und sorgte durch seine ideologischen Schulungen für den Zusammenhalt innerhalb der rechten Szene. Im Unterkapitel »Zum Nazi geschult« beschreibt er, dass nicht zuletzt die auf seine Person gerichtete große mediale Aufmerksamkeit dafür sorgte, dass viele junge Männer auf ihn zukamen, um Anschluss in einer seiner Kameradschaften zu finden. Er ermutigte die jungen Menschen, die »frustriert« und »ohne Zukunftsperspektive« waren, gab ihnen Halt und fütterte sie mit Erfolgserlebnissen. Er erweckte in ihnen das Gefühl, wichtig zu sein, dass die Kameradschaft unbedingt auf sie angewiesen sei, während sie außerhalb dieses engen Kreises, in der Gesellschaft, zumeist keine oder nur wenig Anerkennung fanden. Die Kameradschaft wurde für diese jungen Menschen somit zu »einer Art Droge, von der sie nicht mehr lassen können«. Sie wurden mehr und mehr von äußeren Einflüssen isoliert und dadurch gewissermaßen »frei formbar«, das heißt empfänglich für die nationalsozialistische Ideologie. Nach seinem Ausstieg enthüllte Ingo Hasselbach sein gesamtes Wissen über die Neonazi-Strukturen dem Bundeskriminalamt. Er belastete auch sich selbst, indem er die Mittäterschaft bei einem Brandanschlag auf einen links-alternativen Jugendclub zugab; 1997 wurde er dafür zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe verurteilt. Im Jahr 2000 erfolgte dann, zusammen mit Bernd Wagner, die Gründung von EXIT Deutschland, einer Organisation zur Unterstützung von Aussteiger_ innen bzw. Aussteigewilligen aus der rechten Szene – nur ein offensiver Schritt gegen die Neonazi-Szene unter vielen.
Auch Oliver Schweigert gehörte zu den Schlüsselfiguren in der Weitlingstraße. Der Weggefährte Wendts und Hasselbachs und ehemalige Vorsitzender der Nationalen Alternative ist einer der führenden Anti-Antifa-Aktivisten. Ziel der Anti-Antifa ist es, die Namen und Adressen von politischen Gegner_innen auf sogenannten »schwarzen Listen« oder »Feindeslisten« zu veröffentlichen. Schweigert wurde mehrmals verhaftet – unter anderem 1996 wegen des illegalen Besitzes von Waffen und NSDAP-Propagandamaterial. 1999 fand die Polizei bei einer Hausdurchsuchung eine »schwarze Liste« mit 60 Namen, Adressen und Fotos. Gegenwärtig ist Schweigert zudem Funktionär des Nationalen und Sozialen Aktionsbündnisses Mitteldeutschland (NSAM), das als Vernetzungsplattform der rechtsradikalen freien Kameradschaften in den neuen Bundesländern fungiert. Aus diesem Aktionsbündnis ging 1996/97 der Thüringer Heimatschutz (THS) hervor. Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt waren stellvertretende Leiter der Sektion Jena; auch Beate Zschäpe gehörte dazu. Zusammen bildete das Trio den Kern des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), dessen terroristische Verbrechen später deutschlandweit für Aufsehen sorgen sollten. Die Verbindung zwischen Schweigerts NSAM und dem NSU sowie die Verbindung zwischen zwei Generationen von militanten Neonazis sind Beispiele für das gefährliche Netzwerk, das bis heute Verbrechen begeht und Propaganda verbreitet.
Noch nie gab es so viele Angriffe auf Geflüchtetenheime wie im Jahr 2015. Heute sind die Verflechtungen der rechtsextremen Szene der Nährboden, auf dem der Rechtspopulismus von AfD, Pegida & Co. wächst und rasant an Zuwachs gewinnt.