Groß geworden bin ich in einer kleinbürgerlichen Gegend am Stadtrand Schweinfurts. Einer Umgebung, die auf den ersten Blick wohl kaum deutscher hätte sein können. Auf den Klingelschildern der Nachbarschaft ließen sich ausschließlich deutsche Nachnamen finden. Die Embleme deutscher Autohersteller zierten vornehmlich die Karossen der in den verkehrsberuhigten Straßen parkenden Mittelklassewagen. Der Rasen vor dem Reihenhaus wurde jeden zweiten Samstagmorgen zwischen 9 und 10 Uhr ordnungsgemäß gemäht und einmal im Jahr gab es ein großes Nachbarschaftsfest mit Fleischsalat und viel fränkischem Bier. Doch wer etwas genauer hinsah, merkte, dass hier etwas aus dem Rahmen fiel.
Dabei waren es weder die Dönerbude noch der Asia-Imbiss, die nicht so recht in das einheitliche Bild passen wollten, sondern drei Wohnblocks mit stets herunter gelassenen Rollläden deren Balkone mit überdimensionierten Weber Grills, buntem Plastikspielzeug und Satelliten-Schüsseln so vollgestopft waren, dass eine Nutzung im eigentlichen Sinne unmöglich war. Hier wohnten einige der U.S.-Soldaten, die das Privileg genossen außerhalb der Kaserne leben zu dürfen. Generell zeigte sich, dass der American Way of Life nicht so recht in die deutsche DIN-Norm passen wollte. Die für jeden Soldaten von der U.S.-Regierung gestellten Haushaltsgeräte, wie Kühlschrank, Elektroherd und Waschmaschine erforderten schon ein Höchstmaß an deutscher Ingenieurskunst, um sie überhaupt in der Küche einer 3-Zimmer Wohnung installieren zu können. Doch spätestens bei den Betonfertigbaugaragen zeigte sich, dass DIN-Norm und amerikanische Autobaukunst so unvereinbar waren wie New York Jets und New England Patriots, die Borussia und der FCB. Für die Erwachsenen machte die Anwesenheit der U.S.-Familien keinen Unterschied. Weder trug man zur Völkerverständigung Cowboystiefel noch hegte man eine Aversion gegen die Nachbarn aus Übersee. Das Verhältnis ließ sich wohl am besten mit absoluter Gleichgültigkeit und einem gelegentlich ungläubigen Kopfschütteln über den exorbitanten Spritverbrauch der „Amischlitten“ beschreiben. Umgekehrt galt wahrscheinlich das Gleiche, doch so einen Grill hätte mein Vater dann doch schon gerne gehabt. Weniger egal war meinen Eltern allerdings die Anwesenheit U.S.- amerikanischer Popkultur in meinem Kinderzimmer. Doch zu einem deutschen Kinderzimmer gehörte Bugs Bunny eben genau so sehr wie Benjamin Blümchen.
Und so wuchs ich zwischen Prädikat „pädagogisch besonders wertvoll“ und jedem erdenklichen Disney Kitsch auf. Dementsprechend lag meinem Verständnis nach der Mittelpunkt der Erde irgendwo zwischen Britney Spears, Der Sendung mit der Maus und McDonalds. Im Gegensatz dazu lag der meiner Mutter wahrscheinlich irgendwo zwischen Heinz Erhardt, tschechischen Märchenprinzen und Willy Brandt. So war für mich klar, dass man Bier eigentlich aus roten Plastikbechern trinkt, dass sich der Tag des Jüngsten Gerichts in irgendeiner Stadt mit grünen Straßenschildern, riesigen Häuserschluchten und gelben Taxis abspielen wird, dass der einzige, der die Apokalypse aufhalten kann ein ziemlich normaler Typ ist der zufällig super mit Waffen kann und dass nach erfolgreicher Mission ganz sicher irgendwo eine U.S.-Flagge weht. Der Mittelpunkt der Erde lag für mich also nicht, wie für die meisten Kinder meines Alters, rund 6000km weit westlich sondern lediglich vier Straßen entfernt vor unserer Haustür. Zugegeben, hier und da wirkte alles ein wenig improvisiert und gekünstelt, doch dafür entschädigte schon alleine der typisch gelbe Schulbus mit dem die Kinder der Soldaten und Soldatinnen allmorgendlich zur High School auf dem abgeriegelten Kasernengelände gefahren wurden. Zu dem Ort an dem die Autos auch tatsächlich in die Garagen passten, man Wasser auf dem Flur aus kleinen Springbrunnen trank und Fastfood in allen Farben des Regenbogens erstrahlte. Für uns Kinder begann, im Gegensatz zu unseren Eltern, das Leben erst hinter dem Gartenzaun.
Auf dem Schulweg übten wir schon fleißig das was wir für Englisch hielten: ich, für meinen Teil, um später in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten auszuwandern. Und am Nachmittag zog es uns immer wieder zu dem kleinen Flecken der Glückseligkeit in unserer Nachbarschaft. Mit dem Völkeraustausch hielten wir es allerdings wie unsere Eltern. Wir spielten Räuber und Gendarm und die Anderen eben cops and robbers. Die friedliche Koexistenz war jedoch mit den Anschlägen vom 11. September 2001 schlagartig beendet. Das kleinbürgerliche Umfeld war nicht mehr länger willkommene Abwechslung zum militärischen Alltag auf dem Kasernengelände, sondern ein unkalkulierbares Risiko für das Wohlergehen der dort lebenden Soldaten, Soldatinnen und deren Familien. So kam es, dass unser Wohnviertel binnen weniger Stunden eher an eine Besatzungszone als an ein kinderfreundliches Vorzeigeviertel erinnerte. Von nun an glichen die Wohnblocks der U.S.-Soldaten einer militärischen Festung. Humvees parkten auf den Vorplätzen, überall standen zum Sichern und Entsichern der Maschinengewehre signalfarbene Fässer und die jungen G.I.s patrouillierten schwer bewaffnet in Zweierteams durch unsere Nachbarschaft.
Niemand fand das auch nur im geringsten Maße seltsam oder bedenklich, denn wir alle mussten ja jetzt solidarisch sein. Als sich dann auch noch herausstellte, dass die Attentäter aus Hamburg kamen, fühlte ich mich sogar ein bisschen mitschuldig. Dennoch sollte das Bild der freien und gerechten Nation in den kommenden Jahren immer mehr Risse bekommen. Obwohl meine Nachbarn ein paar tausend Kilometer weiter östlich Krieg gegen die Taliban und einen in die Jahre gekommenen Diktator führten, wusste ich alles, was ich über diesen Krieg erfahren hatte ausschließlich aus Internet und Fernsehen. Für mich, wie für die meisten Deutschen, waren die „Operation Enduring Freedom“ und „Operation Iraqi Freedom“ vor allem ein großes Medienspektakel. Krieg in Echtzeit als abendfüllendes Unterhaltungsprogramm.
Doch vor meiner Haustüre lies nur wenig auf die Kriegseinsätze in Afghanistan und Irak schließen. Alles, was sich in den kommenden Jahren verändern sollte, waren die Höhe der Zäune, die Breite der Mauern und die Anzahl nagelneuer amerikanischer Musclecars auf den Straßen meiner Heimatstadt. Man munkelte, dass die Kriegseinsätze den G.I.s auf Grund von Gefahrenzuschlägen und Abschussprämien so viel Geld beschert hatten, dass sie gar nicht so recht wussten wohin damit und es als echte Patrioten einfach kurzerhand in die Neuanschaffung amerikanischer Luxuskarossen investierten. Ich verstand die Welt nicht mehr. Wie konnte es sein, dass auf der einen Seite eine ganze Bevölkerung in den Ruin getrieben wird und auf der anderen Seite die Verantwortlichen dafür mit brandneuen Luxuskarossen à la West Coast Customs belohnt werden? Dass Krieg vor allem für die unbeteiligte Zivilbevölkerung Not und Elend bedeutet, wusste ich schon, da ich die Jahre zuvor immer wieder im Bildband meiner Eltern zum Zweiten Weltkrieg herumgeblättert hatte. Ich war gleichermaßen schockiert als auch fasziniert davon, wie im Krieg das Töten legitimiert, ja sogar glorifiziert wird. Wie in Friedenszeiten die Höchststrafe verhängt wird und im Krieg die Abzeichen. Wie aus zivilisierten Menschen scheinbar wilde Tiere werden. Die Bilder aus den Straßen Bagdads und Abu Ghraib zeigten mir ein Mal mehr, dass auch dieser angeblich chirurgisch präzise Krieg trotz modernster Technik nicht anders war als alle anderen Kriege auch. Doch so einfach es war, diese Tatsache festzustellen, so schwer war es einen Verantwortlichen dafür zu finden, denn es zeigte sich schnell, dass Luxuskarossen einen nicht gezwungenermaßen zum großen Gewinner machen.
Obwohl ich als pubertärer und antiautoritärer Gymnasiast dem Krieg entschieden entgegen stehen musste, kam ich am Wochenende zunehmend in Kontakt mit den in Schweinfurt stationierten G.I.s. Nach knapp 16 Jahren, einer eher mäßigen Englischnote und 1 1⁄2 Six-Packs Roth Runner war es nun tatsächlich so weit. Mir schossen tausend Fragen durch den Kopf. Ob man in der High School tatsächlich streng nach Gruppenzugehörigkeit in der Cafeteria sitzt, ob Budweiser wirklich nach Pisse schmeckt oder warum 150 Jahre nach dem Ende der Sklaverei immer noch keine Chancengleichheit herrscht. Aber vor allem wollte ich wissen wie es ist ein Soldat zu sein. Auf Befehl in den Krieg zu ziehen, auf einen Menschen zu schießen. Wie es ist, von einer Kugel getroffen zu werden, einen Freund sterben zu sehen. Und ich wollte verstehen, warum in Gottes Namen sich gerade die freiheitsliebenden Amerikaner, die sich sonst jegliche staatliche Einmischung verbitten, nun einfach so vor den Karren des blinden Gehorsams spannen ließen. Antworten darauf bekam ich keine. Zwar ließ sich schon auf gut 500 Meter jeder U.S.- Soldat eindeutig an seinem Falt-Top Haarschnitt, den stets kurzen Hosen und einem weiten weißen T-Shirt erkennen, doch über das Offensichtliche reden wollte dann am Ende doch keiner. Es zeigte sich aber schnell, dass wir uns trotz der äußerlichen Ungleichheit eigentlich ziemlich ähnlich waren, denn mit Bier, Mädchen und Punk Rock hatten wir so ziemlich die selben Interessen. Mit dem kleinen aber feinen Unterschied, dass die zwei bis drei Jahre älteren Jungs aus der Army schon alle einen Fuß auf ein Schlachtfeld gesetzt hatten, während meine Knie schon beim Gedanken an den bevorstehenden Elternsprechtag weich wurden. Mein Verhältnis zu den U.S.-Soldaten war von einer tiefen Ambivalenz geprägt. Zum einen war ich unglaublich fasziniert von der Coolness, Härte und Männlichkeit, die sie ausstrahlten. Zum anderen hatte ich eine tiefe Abneigung gegenüber all dem wofür das Militär stand.
Die Soldaten waren jedoch nicht nur für ihre besonders lässige Art bekannt, sondern auch für ihre Aggressivität. Die ständige Präsenz der Military Police in den Bars und Clubs machte auch klar, dass dieses Vorurteil zu einem gewissen Grad durchaus berechtigt war. Und falls dann tatsächlich mal die Fäuste flogen, wusste man, dass hier nur das Recht des Stärkeren zählte, denn die U.S.-Soldaten konnten nicht nach deutschem Recht belangt werden. Für jede Straftat, die sie begingen, egal ob innerhalb oder außerhalb der Mauern des Stützpunktes, landeten sie vor dem U.S.-Militärgericht. Auch die deutsche Polizei durfte nur in Ausnahmefällen eingreifen. Allerdings muss man dazu auch fairerweise festhalten, dass die G.I.s nicht gerade auf eine verfassungskonforme Behandlung seitens der Military Police hoffen durften. Denn, wenn die doch einmal rechtzeitig an Ort und Stelle eintraf, war die Situation meist erst dann entschärft, wenn der Soldat bewusstlos zu Boden ging. Damit erklärte sich der geflügelte Satz „Willst du einen Yankee rennen sehen, dann ruf die Military Police“ von selbst. Trotz des gnadenlosen Vorgehens der Military Police war mir klar, dass man am besten einen großen Bogen um einen angetrunkenen und aggressiven G.I. macht. Aber natürlich ließen sich nicht alle über einen Kamm scheren. Gerade die Soldaten, die aus dem Krieg zurückkamen, waren sehr spendabel und schienen sich weder um den morgendlichen Kater noch um die Dicke ihres Portemonnaies zu kümmern. So konnte man sich schon mal für umsonst durch die Nacht trinken. Doch gab es auch die Abende, die einmal mehr deutlich machten, dass Krieg eben kein Abenteuer zum Zeitvertreib ist.
Ich saß mit einer ganzen Truppe von U.S.-Soldaten an der Bar unseres linksalternativen Kulturzentrums. Die G.I.s waren einige Tage zuvor nach knapp einem halben Jahr aus dem Irak zurückgekommen und feierten sich und das Leben. Die Stimmung war zu Beginn ziemlich locker und ausgelassen, wir unterhielten uns in amerikanisch-oberflächlicher Manier über irgendwelche belanglosen Dinge und kippten dazu den hauseigenen Copkiller-Cocktail.
Mit steigendem Pegel wurden die Gespräche tiefer. Und ich stellte all die Fragen, die ich mich zuvor nie getraut hatte zu stellen. Wie es ist ein Soldat zu sein, auf Befehl in den Krieg zu ziehen und auf einen Menschen zu schießen. Wie es ist, von einer Kugel getroffen zu werden und auch wie es ist, einen Freund sterben zu sehen. Alle antworteten mir bereitwillig, nur einer saß da und schwieg. Er saß einfach auf seinem Stuhl, starrte in die Leere und es sah so aus, als wäre er mit den Gedanken überall nur nicht gerade hier an dieser Bar. Als ich die letzte Frage gestellt hatte, sah ich im Augenwinkel wie ihm die Tränen die Wangen herab liefen. Keiner seiner Freunde verstand so recht was los war und ich natürlich erst Recht nicht. Zuerst neckten sie ihn ein wenig. Er solle sich nicht so anstellen, es sei doch niemand gestorben und so schlimm war es nun wirklich nicht. Dann merkten sie aber, dass er nicht wegen den vergangenen Monaten mit den Tränen kämpfte, sondern dass ihm etwas anderes auf dem Herzen lag und schlagartig kippte die Stimmung. Ich saß wie ein Fremdkörper zwischen all den Soldaten und wusste nicht so recht, ob ich aufstehen oder sitzen bleiben sollte. Ich blieb sitzen. Mittlerweile hatte er aufgegeben gegen das anzukämpfen, was sowieso schon offensichtlich war. Und so liefen die Tränen sturzflutartig die Wangen herab, sammelten sich unter dem Kinn und hämmerten unaufhörlich auf die schwarz gekachelte Bar. Alle starrten ihn schockiert, aber erwartungsvoll an und es war klar, dass er nun entweder mit einer verdammt guten Geschichte oder der Wahrheit herausrücken musste.
Er holte noch einmal tief Luft und versuchte sich zusammenzureißen. Er habe es noch niemandem gesagt und er wisse es ja auch selbst erst seit gestern und es tue ihm leid, dass ihn alle jetzt so sehen müssen, aber es hätte ihn einfach überkommen wegen all dem Alkohol und dem ganzen Gerede über Krieg und Tod. Er schien sonst niemand zu sein der groß um den heißen Brei redet, denn sein bester Freund fuhr ihn nervös an, er solle jetzt Gott verdammt nochmal sagen was los ist. Für einen kurzen Augenblick hörten die Tropfen auf, gegen die schwarzen Kacheln zu klopfen und er sagte ruhig „They shot my little brother“. Jetzt brach sein bester Freund in Tränen aus. Ich saß nur daneben, kämpfte selbst mit den Tränen und schämte mich. Ich schämte mich dafür, dass ich solch bescheuerte Fragen gestellt hatte. Ich schämte mich dafür, so naiv zu sein und glauben zu können, man könne Krieg zwischen ein paar Cop-Killern und lässigem Small-Talk in Worte fassen. Ich schämte mich dafür, dass ich gerade dabei war, wie einer, den ich in meinem Leben noch nie zu vor gesehen hatte, seinem besten Freund erzählte, dass sein kleiner Bruder erschossen wurde. Ich schämte mich dafür, dass ich auf Kosten anderer meine eigene Neugier befriedigt hatte. Denn was hier gerade geschah, war wohl die beste Antwort, die ich auf meine blauäugigen Fragen hatte bekommen können. Als ich mich so langsam mit der Situation abgefunden hatte, kippte die Stimmung erneut.
Plötzlich kochte er vor Wut, schlug wild um sich, schrie dabei aus vollem Hass „I’m gonna to kill all these motherfuckers“. Gemeint hatte er damit wohl oder übel die irakische Bevölkerung, denn, wie langsam klar wurde, war sein kleiner Bruder ebenfalls im Irak stationiert und bei der Explosion einer improvisierten Sprengfalle ums Leben gekommen. Es benötigte knapp 15 Minuten und all seine Freunde, bis er sich wieder halbwegs beruhigt hatte. Obwohl, oder vielleicht gerade weil ich völlig benebelt und von der Situation überfordert war, wurde mir auf einmal all das Leid und die Sinnlosigkeit des Krieges so bewusst wie noch nie zu vor. Nun war es ich, der einfach nur dastand und in die Leere starrte. Mir liefen die Tränen in Strömen die Wangen herab, aber das war mir egal. Mir war egal, dass mich die voll besetzte Bar jetzt wahrscheinlich anstarrte wie einen Aussätzigen, dass ich eigentlich gar keinen Grund zum heulen hatte und dass die ganze Heulerei sowieso nichts ändern würde. Dann tippte mir eine Hand auf die Schulter. Es war einer der Soldaten. Er meinte ich soll mir das alles nicht so zu Herzen nehmen, das sei eben der Lauf der Dinge. Er verabschiedete sich mit einem freundschaftlichen Klaps, reihte sich vor der Tür in die Formation ein, gab das Kommando „Forward March“ und die komplette Truppe marschierte singend im Gleichschritt in die Nacht.