Kadosh

Im Land des Zwiespalts

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Fotos: Philipp Meuser

Text: Cale Garrido

Ein Großteil des Westjordanlands ist seit 1967 unter israelischer Kontrolle. Warum siedeln die Israelis in dieser Region – und wie ist ihr Alltag in diesem gespaltenen Land?

In den letzten zwanzig Jahren haben eine Handvoll gescheiterter Friedensprozesse das israelisch – palästinensische Verhältnis belastet. Seit den Oslo–Abkommen von 1995 sind sechzig Prozent des Westjordanlands unter vollständiger israelischer Kontrolle. Zurzeit leben etwa 380.000 israelische Siedler in 137 Kommunen in der Region. Sie stammen aus der ganzen Welt und kommen mit unterschiedlichen Lebenserfahrungen und Erwartungen. Für viele internationale Beobachter sind die Siedler das größte Hindernis für Frieden im Nahen Osten.

Die junge, nicht religiöse Siedlerin Rachel lebt allein in ihrem Haus in Tekoa Dalet. Sie hat Psychologie studiert und arbeitet momentan an gemeinsamen Theaterprojekten mit palästinensischen und israelischen Kindern.

Statt aber den Bau weiterer jüdischer Siedlungen in dem Gebiet zu unterbinden, unterstützt der israelische Staat seine Bürger bei deren Siedlungsvorhaben in den Palästinensergebieten. Nicht nur die israelische Armee baut ihre Kontrolle über die besetzten Gebiete aus. Auch andere Mechanismen sichern das Fortbestehen der Siedlungen. Erstens, der Aufbau einer funktionierenden Infrastruktur, die das Leben in den Siedlungen komfortabler macht: Wasser- und Elektrizitätsanschluss, geteerte Straßen in den Kommunen, Checkpoints,Tunnel, Mauern, Stacheldrahtzäune und bewaffnetes Sicherheitspersonal an Siedlungseingängen. Zweitens, die Etablierung eines Systems von zivilen Einrichtungen im Bildungs- und Gesundheitswesen sowie finanzielle Anreize für Siedler. Nicht zuletzt unterstützt der israelische Staat die Ideologie der Siedler, die Judea und Samaria – der biblische Name für das Westjordanland – als ihr gelobtes Land ansehen und sich daher berechtigt fühlen, sich überall im Gebiet anzusiedeln. „Es ist wichtig, dass sich die Juden das moralische und religiöse Recht vorbehalten, mit ihren Wurzeln verbunden zu bleiben“, sagt Dani Dayan. Bis 2013 war der in Argentinien geborene Politiker und säkulare Geschäftsmann Direktor des „Yesha Council“, der Dachorganisation für Siedlungen im Westjordanland.

Obwohl einige der Siedler ihrem Klischee entsprechen, zeigt dies nicht das ganze Bild. Nur ein Drittel der Siedler wohnt aufgrund ideologischer Motivation in den Siedlungen: Sie begreifen die Region als Herzstück des jüdischen Volkes. Ein weiteres Drittel bilden ultraorthodoxe Juden, die sich, neben günstigeren Lebenserhaltungskosten, davon angezogen fühlen, in den kleineren Kommunen ein intensiveres religiöses Miteinander zu leben. Die dritte Gruppe besteht aus säkularen Siedlern, die vorrangig aus wirtschaftlichen Gründen ein Leben in den Siedlungen wählen. Sie sind nicht unbedingt politisch motiviert und würden oft ein Leben innerhalb der legalen Grenzen Israels vorziehen – wenn sie es sich denn leisten könnten.

Nokdim ist nur eine von vielen Siedlungen im Westjordanland: eine seltene Oase aus Kalksteinhäusern mit rot gekachelten Dächern und privaten Gärten am Rande der judäischen Wüste. Zwanzig Familien genießen hier ein besonders preiswertes Leben innerhalb der Gemeinde. Yosef Frenkel, Student der chinesischen Medizin und Barista in Jerusalem, lebt in einem Wohnwagen. Er und seine Frau Gilat erwarten ihr erstes Kind.Yosefs Vater, Baruch Frenkel, kennt die Geschichte der Siedlungen von Beginn an: Er ist einer der 290.000 Juden, die dem sowjetischen Antisemitismus der 1970er Jahre entflohen. Frenkel zog 1974 mit Frau und Tochter nach Jerusalem. Vier Jahre später wurde ein israelischer Wachmann von palästinensischen Jugendlichen nahe der historischen Festungsanlage Herodion getötet. Frenkel entschied sich, dort zu siedeln, wo der Mord stattgefunden hatte. „Es war ein Tiefschlag in einem spannungsgeladenen Moment nach dem Krieg, also schloss ich mich einigen anderen Männern an, um zu protestieren“, erklärt er. Die Aktion währte nicht lange, doch Frenkel kam immer wieder an den Ort zurück und fing schließlich selbst an, dort als Wachmann zu arbeiten. „Ich wollte ein neues Dorf gründen. Ein neues Zuhause in Israel. Die Gründung einer Gemeinde war für mich das Wichtigste. Anfangs dachte ich, der Ort wäre nicht wichtig, aber dann verstand ich: mein Zuhause musste in Judea und Samaria erbaut werden.“ Sie hatten keine Wasserversorgung, keine öffentlichen Verkehrsmittel, bisweilen nicht einmal Straßen zu den neu entstandenen Siedlungen. Sie bekamen alles von der israelischen Armee, zeitweise teilten sie sich sogar eine Telefonleitung mit den Soldaten. Nachdem einige Zelte aufgestellt waren, kamen fünf Familien aus Israel. Und blieben. Wie Frenkel glauben viele der Pioniersiedler, das Errichten ihrer Häuser im Westjordanland könnte eine Zwei-Staatenlösung mit den Palästinensern verhindern. „Wenn dieser Ort hier einesTages ein arabischer Staat wird, schwöre ich, dass ich mich auf mein Dach stellen und dieses Land mit einer Kalashnikov beschützen werde“, erklärt Frenkel und deutet dabei ein Lächeln an. Heute besteht die Frenkel–Familie aus drei Generationen von Siedlern, zwei von ihnen haben nie erlebt wie es ist, woanders als in einer Siedlung zu leben. Das Westjordanland ist ihr Zuhause.

Auf Patrouille: Obwohl der Außenposten Maale Rehavam selbst nach israelischem Recht als illegal eingestuft wurde, genießt die Gemeinschaft permanenten Schutz durch die Armee.

Einige Hütten, die von Siedlern ohne Lizenz in Maale Rehavam errichtet wurden, wurden abgerissen. Der Außenposten wird jedoch bald einer naheliegenden Siedlung angeschlossen und auf diese Weise legalisiert.

Nokdim ist eine Art Muttergemeinde für umliegende Außenposten wie Maale Rehavam. Dort bewohnt die Bergara Reyes Familie aus Peru einige Wohnwagen. Bezalel Bergara war der erste seiner Familie, der durch die Aliyah – die Einwanderung jüdischer Diaspora nach Israel – ins Land kam. Er erhielt die „Sal Kita“, eine finanzielle Hilfe der israelischen Regierung, die das Siedeln von jüdischen Immigranten in Israel erleichtern soll. Doch selbst mit dieser Unterstützung konnte er sich das Leben in Israel nicht leisten und zog, angelockt durch die geringeren Lebenshaltungskosten, ins Westjordanland. Geschieden und ohne Hebräisch zu sprechen, wurde er in mehreren Siedlungen abgelehnt. „Sie verurteilten meinen Lebensstil, weil ich alleinstehend war. Maale Rehavam war der erste Ort, der mich willkommen hieß.“ Der heruntergekommene und fast verlassene Außenposten auf der Kuppe eines kleinen Hügels wurde vor 14 Jahren, während der zweiten Intifada, errichtet. Seitdem wurden viele Wohnwagen und Häuser geräumt und abgerissen, da selbst nach israelischem Recht der Außenposten illegal ist. Diese Maßnahmen sind Teil eines Spiels, das die israelischen Behörden vorantreiben, um eine Einhaltung der internationalen Richtlinien vorzutäuschen. Ungeachtet dessen hat die Gemeinde von Maale Rehavam permanenten Zugang zu Wasser und Elektrizität und genießt den andauernden Schutz durch israelische Soldaten. Es deutet sich eine große Grauzone zwischen Legalität und Illegalität zu an. „Wir hatten vor kurzem eine Besprechung mit dem Bürgermeister von Nokdim – und Maale Rehavam wird bald an die Siedlung angegliedert und damit legalisiert“, verkündet Bergara.

Nachman Gutman, 28, wandte sich von der ultra-orthodoxen Tradition ab und verließ Jerusalem, um in Sde Bar, einer kleinen Siedlung zwischen Nokdim und Maale Rehavam, 2012 einen Biohof mit Schafs- und Ziegenfarm zu eröffnen. Mit seinem an der Judäischen Wüste gelegenen Restaurant versucht Gutman, an die Tourismusindustrie des Westjordanlandes anzudocken. Momentan beschäftigt er fünf Palästinenser aus den umliegenden Nachbardörfern, die ihm sein neues Haus – einen Bauwagen auf Betonpfeilern – bauen. „Sie kommen von Zeit zu Zeit und helfen aus. Wir genießen die Zeit zusammen. Das ist einer der Gründe, warum ich mich hier frei und sicher fühle“. Palästinensern ist es unter Umständen erlaubt in den Siedlungen zu arbeiten – wenn sie eine Arbeitsgenehmigung in Form einer „Green Card“ besitzen. Stein für Stein bauen sie Häuser für die Siedler. Doch die von der Armee eingeführten Sicherheitsstandards etablieren ein von vielen Siedlern unterstütztes System derTrennung zwischen den Israelis und Palästinensern.

Elisha, 30, baut sein Haus in der Siedlung Tekoa. Zusammen mit Chaj Ibrahim, seinem palästinensischen Bauingenieur, plant er weitere Projekte in Jerusalem. Elisha trägt immer eine Pistole an seinem Hosenbund. „Wir werden angehalten ein Auge auf die palästinensischen Arbeiter zu werfen. Früher trug ich eine M-16, aber nach einer Weile fing ich an, Ibrahim zu vertrauen und fühlte mich dann seltsam dabei, ein Maschinengewehr zu tragen. Jetzt trage ich nur eine kleine Pistole bei mir“, erklärt Elisha. „Ich muss“, ergänzt er. Direkt hinter dem großen Wohngebiet, in dem Elisha lebt, windet sich eine kleine Schotterstraße über Tekoa B zum nächstgelegenen Vorposten, Tekoa C. Jeden Dienstag fährt ein kleines rotes Auto über diese Straße und bringt frische Nahrungsmittel vom jüdischen Markt Mahane Yehuda aus Jerusalem.

Am Ende der Straße, in Tekoa C, lebt und arbeitet Yonatan. Er heiratete vor vier Jahren, nachdem er sein Haus im Außenposten errichtet hatte. Mittlerweile hat er drei Kinder. Von seinem Vater lernte Yonatan das Kochen und versucht nun, sein Lebensunterhalt damit zu verdienen.


Gilat wurde im Norden Israels geboren. Nach der Hochzeit mit Yosef Frenkel, der in der Nokdim aufgewachsen ist, zog Gilat in die Siedlung. Sie erwarten nun ihr erstes gemeinsames Kind

In der Küche bereitet er spezielle Mahlzeiten zum Sabbat vor – dem jüdischen Ruhetag – und erhält Anfragen aus der gesamten Region. Er glaubt, dass Tekoa eine Sonderstellung als Siedlung einnimmt: „Dieser Ort ist ein schönes Beispiel für das Zusammenleben von Palästinensern und Juden. Wir leben am selben Ort, wir leben voneinander. Sie verkaufen Waren, die wir kaufen, sie arbeiten hier, wir machen Dinge zusammen“, erzählt Yonatan milde. Die Harmonie, die er beschreibt, wirkt dennoch fehl am Platze. Nur zwei Kilometer entfernt umschließt der Zaun die Kolonie und verhindert so Einlass in die Siedlungen.

Hinter Tekoa C liegt Tekoa Dalet, die letzte jüdische Enklave am Tor der Judüschen Wüste. Die Dünen der Wüste verkörpern die natürliche Grenze der Vorposten, in denen die Siedler mit ihren Familien in einer Umgebung leben, die sie als friedlich und sicher beschreiben, in der religiöse und säkulare Menschen miteinander auszukommen scheinen. Viele Siedler geben an, den Ort aufgrund der Abgeschiedenheit und der schönen Szenerie gewählt zu haben. Sie leben in selbstgebauten Häusern, Wohnwagen, Zelten und Höhlen; sie bauen ihr Essen selber an und kultivieren Oliven- und Zitronenbäume.

Die Bewohner Tekoa Dalets haben sich eine idyllische Welt in ihren Köpfen kreiert. Sie übersehen die Sicherheitstore, Ckeckpoints und Absperrungen – als wären sie angemessene Elemente eines freien Lebens.

Israel hat die Hügel des Westjordanlands eingenommen. Die israelischen Siedler, welche entweder durch religiöse, ideologische oder wirtschaftliche Motivationen getrieben sind, billigen die Besetzung des palästinensischen Gebiets.

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